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  • Autorenbildfraeulein_franzi

Mein Wirrwarr, eine Chance.



„Mach ich jetzt ne Detox-Kur, Veganuary oder eine neue Sportchallenge?" fragte ich mich Anfang der Woche.

Auf Instagram wurde ich gerade zu bombardiert von Vorschlägen, wie man einen bestmöglichen Auftakt in ein neues Jahr inszeniert. Ein neues Jahr, das immer Potential hat das Beste deines Lebens zu werden. Inspirationen mich selbst zu optimieren, sprechen mich an. Denn besser geht immer. Mehr ist mehr. "Hier ein paar Fragen das Jahr zu reflektieren, hier ein neues Tool neue Ziele zu setzen und hier zweihundert Vorschläge den Januar gesünder, nachhaltiger, sportlicher, bewusst- und achtsamer zu gestalten." Die Möglichkeiten dazu endlos. Überfordernd. Motivierend.


Ich bin da eigentlich vorne mit dabei. Ich formuliere nicht nur Vorsätze, sondern akribisch erarbeite ich zwei Seiten Ziele für alle meine Lebensbereiche. Realistische Ziele mit Schritten zur Umsetzung. Seit Jahren mache ich aus der Jahresreflektion- und Jahresplanung ein großes Ding. Menschen, die in den vergangenen Jahren die Tage um Silvester mit mir verbracht haben, können davon ein Lied singen. Inspirierend, finden die einen. Stressig, die anderen. Ich mache es nicht aus äußerem Druck heraus, sondern aus der Überzeugung und Erfahrung, wie wohltuend es ist, auf sein Jahr zurückzublicken. Erlebtes als Gelerntes zu archivieren, über Wunder zu staunen, stolz auf erreichte Ziele zu blicken und durch die Archivierung Raum für Neues zu schaffen.


Wenn ich was richtig gut kann, dann ist das meine Jahresreflektion.

Die fiel dieses Jahr ins Wasser. Buchstäblich, denn die Tage vor Silvester regnete es. Ich saß in den letzten Zügen das Buchmanuskript zu überarbeiten, zog im Morgenmantel durch die Bude, vergaß zwischendrin zu essen und träumte nachts schlecht von hässlichen Buchcovern. An Silvester erlöste mich mein Besuch aus der Schreibmühle und wir stießen bei lauwarmen Wetter mit Sekt am Lagerfeuer auf das neue Jahr an. Ein Jahresanfang, der mich überrumpelte, aber nicht weniger schön war. Er fühlte sich sogar leicht an. Ungeplant, hineingestolpert, fast spielerisch spitzbübisch und lebendig, als ich am Januarmorgen in das neue Jahr blinzelte. So wie Kinderaugen an Weihnachten, die gespannt sind, was sich hinter dem bunten Papier der Pakete unterm Baum verbirgt.

Doch der Moment hielt nur kurz, bevor ich mich in die letzten zwei Tage Buch-Manuskript-Fertigstellen warf.


Das Buchmanuskript wurde abgeschickt, die Bude auf Reset geputzt und die Bücher ins neue Bücherregal sortiert. Der letzte Urlaubstrag brach an und ich hatte ein Ziel: Jahresreflektion und neue Ziele für 2022 formulieren. Es war nicht nur der Tatsache geschuldet, dass ich kein offenes Café fand. Doch an dem Tag wurde das Ziel nicht erreicht. Mein Kopf war nicht fähig einen klaren Gedanken zu fassen. Sowohl der Blick zurück als auch der Blick nach vorn, erschienen mir zu groß, als dass ich die Energie dafür aufbrachte. Mir fehlte aber nicht nur die Energie dafür, mir fehlte auch die Klarheit, was ich damit überhaupt gerade bezwecken wollte. Was will ich denn überhaupt? Ne neue Diät, oder endlich die zehn Schritte zu mehr Körperakzeptanz gehen? Tun oder Lassen? Auf Social Media schrieen mir beide Botschaften entgegen und ich wusste in vielen Bereichen meines Lebens nicht mehr, was ich gerade eigentlich überhaupt wollte. Ich drehte im Kreisverkehr Runden, ohne mich für eine Ausfahrt entscheiden zu können.


Ich fühlte mich wirr und zu müde mich meinem inneren Wirrwarr zu stellen.

Die Arbeit ging wieder los und ich entfloh dem inneren Wirrwarr durch äußere Aufgaben. Eine bewährte Methode, die den Zustand allerdings nur verlagert und nicht löst.


Ich fühlte mich die vergangene Woche also verwirrt, kopflos und unsortiert. Meine Lösung war darauf zu warten, dass die Energie zurückkehrt, um den Zustand der Verwirrung zu beenden.


Die Tage vergingen und in die Leere ergoss sich verschleppter Stress des vergangenen Monats. Ich setzte mehrfach an. Plante Zeit ein, um mit einer Reflektion und Planung zu beginnen und stieß auf innere Leere und Wirrwarr. Und nicht nur das. Ich entdeckte dahinter noch an ein anderes Gefühl.


Da war nicht nur Leere und Verwirrung, da war Angst. Angst vor der Leere. Angst vor der Verwirrung und Planlosigkeit. „Kann es sein, dass du durch dein dauerndes Reflektieren auch etwas vermeidest?“ werde ich gefragt. Wie bitte? Als ob. Das kann nicht sein. Das Reflektieren ist meine Stärke. Sie ist mein Weg, sie ist gut. Doch ich ließ die Frage sacken. Ich spürte, dass mein akribisches Reflektieren tatsächlich auch etwas verhindert. Ich verhindere mögliches Wirrwarr. Es ist meine bewährte Strategie mich vor diesem Gefühl der Verwirrung und der Leere zu schützen. Ich reflektiere, weil ich nichts übersehen will und plane, weil sich meine Ziele kontrollieren lassen.


Im Gespräch sagt jemand zu mir: „Deine Verwirrung ist doch etwas Schönes. Es birgt auch eine Chance. Wenn wir uns verwirrt fühlen, heißt es, dass eingefahrene Muster aufgebrochen werden. Leere ist immer eine Chance dafür, dass etwas Neues entstehen kann.“

In dem Moment verstand ich etwas und mein Wirrwarr leuchtete in einem anderen Licht auf.

Ganz am Anfang der Bibel wird uns der Zustand der Erde beschrieben. Sie war wüst und leer, heißt es in Genesis 1. Das Wort dafür ist Tohuwabohu, ein Synonym für Wirrwarr. Chaos, Durcheinander, Verwirrung. Ein Zustand, der sich nicht an sich schön anfühlt oder aussieht. Aber ein Zustand ist, der ein notwendiger Ausgangspunkt sein kann. Das Wirrwarr ist auch ein Ausgangspunkt für Neues, für Anderes und für Überraschung. Das Wirrwarr ist zwar auch dunkel und unheimlich, aber es birgt auch Potential für schöpferische Kreativität.


In ihm ist noch alles möglich, wenn gleich noch nicht sichtbar.


Ich verstand, dass mein Wirrwarr gerade nichts ist, was ich zwanghaft beenden muss. Nichts, was ich bekämpfen sollte oder mit Reflektion aus dem Weg schaffen oder vermeiden sollte. Es ist neben dem verwirrenden Gefühl auch ein faszinierender Zustand, dem ich mit Neugier begegnen darf. Mein Wirrwarr wird also gerade zu einer Geduldsprobe. Ich warte und erkunde es. Mehr hingucken, weniger bewerten. Mehr loslassen, weniger planen. Das fühlt sich immer noch verwirrend an, aber lebt von einer Hoffnung.


Das Wirrwarr endet, wenn ich für etwas Neues bereit bin. Als Gott in das Wirrwarr sprach, entstand Klarheit. Er sprach in die Dunkelheit und es wurde Licht. Er sprach in das Chaos und es wurde Ordnung.


Ich lebe von der Hoffnung, dass Gott mein Wirrwarr sieht und mir beim Warten die Angst nimmt. Und so langsam weicht die Angst und die Neugier tritt an ihre Stelle, auch wenn sich damit das Wirrwarr nicht entwirrte. Doch jetzt spüre ich wieder Leichtigkeit. Jetzt fühlt es sich tatsächlich an wie Kinderaugen an Weihnachten. Mal schauen, was sich im Wirrwarr verbirgt. Mal schauen, wann Gott spricht. Was und wie er spricht. Ich vertraue, dass er es tun wird. Dann, wenn die Zeit reif ist für etwas Neues.


Mein Wirrwar ist keine Sackgasse, aus der ich rausmüsste, sondern ein Warten darauf, dass sich Wege zeigen, die ich bislang noch nicht sehe.

Aufregend, oder?




Photo Credit: @john_cameron


A wall of scribbles at the Tate Modern, London during the Please Draw Freely exhibition, July 2021

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