Sprüche 27,10 „Verlass weder deinen Freund, noch deines Vaters Freund. Geh nicht in das Haus deines Bruders, wenn du durch Schwierigkeiten gehst. Jemand in der Nähe ist besser als ein Bruder, der weit weg ist.“
Während meines Auslandsemesters in Kanada teilte ich mein Zimmer mit einer Kanadierin, die für das Studium von der Westküste an die Ostküste gezogen war. Sie verließ während der Monate kaum den Campus, ging sehr spät schlafen und kam nach dem Unterricht meistens direkt wieder auf unser Zimmer. Grund war, dass sie jeden Tag mit ihren 20 besten Freunden und ihrer Familie aus der Heimat chattete, telefonierte oder auf sonst einem Kommunikationsweg, der 2010 angesagt war, Kontakt hielt. Meine Kommunikation nach Deutschland lag im Gegenteil dazu für Monate brach, da mein Laptop nach zwei Wochen starb und ein Smartphone besaß ich zu dem Zeitpunkt keins. Für sechs Monate war ich einfach da, ganz da vor Ort und schloss tiefe Freundschaften, von denen manche bis heute andauern.
Es ist eine schmerzliche Erkenntnis, dass sich Freundschaften mit Ortswechseln verändern. Mit der Lieblingsmitbewohnerin, mit der man den Alltag verbracht hat, muss man nun Telefondates finden. Die Nachbarin, mit der man regelmäßig joggen war, sieht man auf Instagram nun mit anderen Laufpartnern. Mit der besten Freundin, die abends spontan vorbeikam, muss man nun langfristig Besuche für das Wochenende vereinbaren. Und je mehr und öfter man weiterzieht, desto mehr Freundschaften werden in den nichtspontanen, virtuellen oder punktuellen Raum verlegt.
Meine Mitbewohnerin in Kanada wollte diesen Raum bewahren und kam in dem Leben vor Ort nicht an, sodass sie nach einem Semester zurück in die Heimat ging. So nachvollziehbar und doch auch schade. So wichtig langfristige Freundschaften sind und so wichtig es ist, dass man für ihren Erhalt neue Formen findet, so wichtig ist es auch, dass man Freunde vor Ort hat. Menschen, die um die Ecke wohnen und dich kennen. Menschen, die deinen Alltag mitbekommen und sich vertrauenswürdig erweisen. Die Weisheit „Jemand in der Nähe ist besser als ein Bruder, der weit weg ist“ möchte uns daran erinnern, dass wir als Menschen an einem Ort sind, das wirkliche Leben an einem Ort stattfindet und ich nicht an zwei Orten gleichzeitig sein kann. Mich fordert das heraus, weil ich das Gefühl habe, dass ich meinen vielen guten Freunden aus der Heimat und vergangener Studienorte schon nicht gerecht werde. Gleichzeitig spüre ich eine Sehnsucht nach Menschen in der Nähe, vor Ort, ganz hier in meinem Alltagsgeschehen greifbar.
Jemand hat mir einmal gesagt, dass ein Gebet, das Gott immer wieder neu erhören wird, das Gebet für neue Freunde ist. Menschen vor Ort, die zu Freunden werden können und einen weiteren Lebensabschnitt begleiten - vielleicht nur für eine Weile, vielleicht für den Rest des Lebens, aber das werde ich nur herausfinden, wenn ich mich darauf einlasse.
Ich brauche dafür erneut emotionale Offenheit, ein Einlassen auf mir Unbekannte und auch ein Loslassen bestimmter Vorstellungen.
Ich glaube, dass Du und ich in unserem Leben immer wieder neu überrascht werden, welche Freunde sich in der Nähe entpuppen werden, wenn wir bereit sind sie zu empfangen.
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