All die Jahre, die ich in Gießen gewohnt habe, fand ich den Nachbarortsnamen „Heuchelheim an der Lahn“ schräg. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wie es zu der Namensgebung kam, aber schmeichelhaft mutet der Name nicht an. Wenn man damit aufwächst, fällt es einem nicht ständig auf und ich kenne einige liebe Menschen dort. Ein Kommilitone, der Deutsch als Fremdsprache gelernt hatte, benutzte diesen Ort einmal als Bild in seiner Übungspredigt und seitdem hat es sich bei mir festgebissen. Als Heimat des Heuchelns. Heucheln ist ein heftiges Wort, finde ich. Ein Heuchler jemand, der nach außen etwas darstellt, das absolut nicht dem realen Selbst widerspricht. Es ist das Gegenteil unserer Sehnsucht nach Authentizität und Echtheit. Es ist ein unaufrichtiges Verstellen, eine scheinheilige Rede, eine trügerische Fassade. Absolut kein Kompliment.
Ich möchte kein Heuchler sein. Ich möchte, dass mein Handeln und mein Sprechen einander entsprechen. Ich möchte, dass mein Selbstbild und Fremdbild möglichst nah beieinander liegen. Ich möchte ehrlich, authentisch und echt sein. Aber will das nicht jeder?
Der Heuchelei Vorwurf trifft in diesen Kapiteln aber nicht irgendwen, sondern die frommen Leiter, die geistliche Elite - diejenigen, von denen man eigentlich erhofft, dass ihre Integrität zuverlässig ist. Die drastischen Worte und Bilder, die Jesus hier verwendet, lassen erschauern. Ich frage mich manchmal in welchem Ton Jesus so etwas gesagt hat, denn selbst mit der freundlichsten Stimme wird der Vorwurf nicht milder.
„So seid ihr Pharisäer. Ihr reinigt das Äußere eurer Becher und Schüsseln, aber euer Inneres ist voll Raubgier und Bosheit. […] Ihr gebt den zehnten Teil von Kräutern wie Minze und Raute und von sämtlichen Gemüsesorten und lasst dabei die Forderungen der Gerechtigkeit und der Liebe Gottes außer Acht. […] In den Synagogen nehmt ihr die vordersten Sitze für euch in Anspruch und ihr liebt es, wenn man euch auf der Straße ehrfurchtsvoll grüßt. […] Ihr seid wie Gräber, die unkenntlich geworden sind, die Leute gehen darüber und verunreinigen sich, ohne es zu merken. […] Ihr bürdet den Menschen Lasten auf, die man kaum tragen kann, aber ihr selbst rührt diese Lasten mit keinem Fingern an.
[Lukas 11,39-46]
Der „Pharisäer“ hat es als Synonym für Heuchler in den Duden geschafft, auch wenn im Neuen Testament deutlich wird, dass nicht alle Pharisäer gemeint waren. Es ist der Vorwurf der Unehrlichkeit. Des Machtmissbrauchs derer in Verantwortung. Jesus stellt die fromme Leiter bloß und bezichtigt sie der Lüge, des Betrugs und der Unterdrückung.
Die Wahrheit ist an der Stelle sehr hart. Erschreckend ehrlich. Jesus zögert nicht die Doppelmoral geistlicher Leiter zu entlarven. Das kommt nicht gut an. Die Gesetzeslehrer fühlen sich auf ihren feinen Schlips getreten.
„Meister, mit dem, was du sagst, greifst du auch uns an.“
[Lukas 11,45]
Der Griff zur Opferkarte ist schneller, als der zum offenen Eingeständnis. Was bist du jetzt so angriffig, Jesus? Wie kannst du es wagen? Weißt du eigentlich mit wem du sprichst?
Ein geistlicher Titel oder ein gesellschaftlich hoher Rang hielten Jesus nicht davon ab berechtigte Kritik zu üben. Und sollte es auch heute nicht. Doch anstelle der Einsicht wird verteidigt, abgeschmettert und diskutiert. Nicht unbedingt ein guter Ausgangspunkt für Sinneswandel und struktureller Veränderung.
Licht tut weh, aber es heilt auch.
Jesus warnt vor Heuchelei, denn sie führt zum Missbrauch. Zur Manipulation und frommer Scheinheiligkeit. Im Verborgenen gärt sie, nimmt neue Formen an und verletzt andere.
Jesus lädt ein ans Licht zu treten, ehrlich zu werden und Veränderung zu erleben. Ganz gleich, wo wir gerade stehen und wie es in uns aussieht. Jesus ist nicht an frommen Floskeln oder aufgesetzten Versen interessiert, sondern ruft Menschen aus ihrer Unaufrichtigkeit sich selbst, anderen und Gott gegenüber, heraus.
Er ruft mich heraus und schenkt Mut in das gleißende Licht der Realität zu blicken.
„Nichts, was verborgen ist, bleibt verborgen, alles wird ans Licht kommen. Und nichts, was geheim ist, bleibt geheim, alles wird bekannt gemacht werden.“
[Lukas 12,2]
Klingt bedrohlich, ist aber in erster Linie vielmehr Einladung als Warnung. Es ist eine Einladung sich der Wirklichkeit von Jesus furchtlos zu stellen. Ehrlich zu sein. Veränderung zu erleben und die Freiheit zu erleben, wenn mein Inneres und mein Äußeres nicht wie Tag und Nacht von einander getrennt sind.
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