Das Kapitel 15 startet mit drei Geschichten zum Thema „Verloren und Wiedergefunden“ – das verlorene Schaf, die verlorene Münze und, wohl eine der bekanntesten Geschichten des Neuen Testaments, der verlorene Sohn. Die Pointe der Geschichten ist, dass wir „verloren“ als einem Ort der Einsamkeit, Armut und Orientierungslosigkeit nicht hinnehmen sollten. Niemand soll an diesem Ort der Verzweiflung bleiben müssen. Die Fragen, die dahinter stecken sind nie „Lohnt sich der Aufwand?“ oder „Rechnet sich das?“. In der Ethik Jesu zählt der Einzelne mit seiner Not. Das eine Schaf, auch wenn man noch 99 andere hat. Die eine Münze, obwohl es doch nur eine ist. Der eine Sohn, auch wenn er doch freiwillig gegangen ist. Es geht um den, der gerade einsam ist, gefährdet ist, arm und orientierungslos ist. Es geht nicht darum, dass die 99 gegen das eine ausgespielt werden, Bedürfnisse verglichen werden, sondern die Not des einen ernstgenommen wird. Und es geht um die Freude, wenn dieses Eine wiedergefunden, versöhnt und wiederhergestellt wird.
Jesus erzählt diese Geschichten in der Anwesenheit der Pharisäer. Der führenden geistlichen Elite, gemäß deren Regeln und Vorstellungen, Menschen allzu schnell aus dem Raster fielen und an den Rand der Gesellschaft geschoben wurden. Aus deren Sicht das Verlorene egal war, solange die Masse dabei blieb.
Ganz anders ist der Vater des Verlorenen Sohnes. Er hält nicht nur tagtäglich Ausschau nach dem Sohn, sondern sprudelt über vor Freude über dessen Heimkommen:
„Der Vater sah ihn schon von weitem kommen, voller Mitleid lief er ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.“ [Lukas 15,20]
Es gibt eine fette Party, denn was für ein Geschenk, dass der eine Sohn, der weg war, wieder da ist. Jesus zeigt uns damit: Hey, so ist Gott. Gott wünscht sich Versöhnung, Wiederherstellung – dein Heimkommen zu ihm.
Und dann ist da aber noch der andere Sohn, dessen Freude sich gelinde gesagt im Zaum hält:
„Der ältere Bruder wurde zornig und wollte nicht ins Haus hineingehen.“ [Lukas 15,31]
Da entlädt sich Ärger. Da brechen Anklagen und Vorwürfe heraus. Es ist die Bitterkeit eines Menschen, der sich formal an die Regeln gehalten hat und dafür keine Lebensbelohnung bekommt. Das Gefühl zu kurz zu kommen und benachteiligt zu werden, obwohl man nicht der „Verlorene“ ist.
Doch in diesem Moment wird dieser andere Sohn zum Verlorenen und tritt selbst an einen Ort der Not und Verzweiflung. Und auch dieses Mal geht der Vater einen Schritt auf ihn zu – er bleibt nicht auf dem Fest, sondern geht raus zu ihm und stellt sich dessen Zorn.
Es ist ein Angebot der Liebe, das der Vater ihm entgegenhält:
„Kind, sagte der Vater zu ihm, du bist immer bei mir, und alles, was mir gehört, gehört auch dir.“ [Lukas 15,32]
Man kann nur hoffen, dass der andere Sohn seine Bitterkeit und Enttäuschung loslassen konnte. Dass er seine Selbstgerechtigkeit entlarvte und die Missgunst an der Liebe seines Vaters zerschellte. Dass er die nächsten Jahre in größerer Freiheit und Versöhnung die Großzügigkeit seines Vaters zu seiner eigenen machte. Und er dieser Mangelnarrative über seinem Leben eine neue Wendung geben konnte.
Ich wünsche es ihm vermutlich mehr um meinet- als um seinetwillen. Denn irgendwie kann ich seinen Frust auch nachvollziehen. Meine Welt sortiert sich auch leichter, wenn Menschen aufgrund ihrer dummen Entscheidungen eine Lektion erteilt bekommen. Mir erschließt es sich auch nicht, wenn jemand gefühlt alles falsch macht und dann doch scheinbar alles bekommt, was mir fehlt. Wenn man das logisch lösen will, wird einem irgendwann schwindlig.
Denn Gnade lässt sich nicht in unsere Logik packen. Sie ist ein Geschenk für den, der sie annimmt. Ganz gleich, wie dein Ort der Not nach außen aussieht.
FRAGEN zu den Kapiteln 15+16:
„Vor den Menschen erweckt ihr den Eindruck ein gottgefälliges Leben zu führen, aber Gott kennt euer Herz.“ [Lukas 16,15]
Welcher Gedanke hängt dir nach diesen beiden Kapiteln nach?
Mit welchem Sohn kannst du dich eher identifizieren und warum?
Welches Gefühl hinterlässt die Aussage, dass Gott dein Herz kennt?
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