*warum das manchmal einfach schmerzlich wahr ist
und dennoch nicht das Ende vom Lied bleibt.

In my face.
Wochenlang, vielleicht sogar monatelang, war es mein erster Blick am Morgen. Ich stand auf und öffnete das Schlafzimmerfenster sperrangelweit. Wollte den Hauch frischer Morgenluft einfangen, bevor die Sommerhitze den Tag übernahm. Mein Blick fiel dabei auf unseren Garten - und unweigerlich auf den unserer Nachbarn.
Ich konnte gar nicht anders, als täglich anerkennen:
„Auf der anderen Seite ist das Gras grüner“.
Zweifellos.
An einem Morgen stand ich länger am Fenster und mein Blick biss sich an dem saftig-grünen Teppich der Nachbarn fest. Ich schoss dieses Bild. Es lässt sich nicht bestreiten, egal wie man das Bild dreht und wendet: auf der anderen Seite, der Seite unseres Nachbarn, ist das Gras grüner.
Okay könnte man sagen, die bewässern den ausdauernder als ihr und es stimmt: abends hört man die kleine Sprinkleranlage laufen und manchmal hüpfen die Nachbarkids quietschend durch den Wasserstrahl. Man kennt auch den Spruch: „das Gras ist dort grüner, wo man es bewässert“ und will den Blick damit auf die eigenen Ressourcen lenken, was in der Spirale des Vergleichs hilfreich sein kann. Schon oft hat mir Dankbarkeit dabei geholfen und meinen Blick verändert. Doch wenn ich den Blick mal dort lasse, dann wird mir klar, dass es ein Problem gibt. Denn egal, wie sehr ich unseren Garten bewässern würde, er wäre nicht so grün wie der auf der anderen Seite. Schaut man nämlich genau hin, dann besteht unsere Gartenwiese gar nicht aus Gras, sondern aus fünfzig Sorten Unkraut. Von weitem kann sie, ohne Kontaktlinsen auf den Augen, aussehen wie ein etwas struppig-geratener Rasen.
Mein Gras, ein Feld voller Unkraut.
Unser Unkrautrasen ging mir nach und die Anerkennung, dass Bewässern das Problem nicht löst. In der Theorie müssten wir unseren Garten komplett vertikutieren. Beim Vertikutieren wird die Grasnarbe eingeschnitten, Unkraut entfernt und der Boden belüftet, bevor neu Rasen eingesät wird. Ein aufwendiges und teures Unterfangen, was momentan nicht in Frage kommt. Sprich, hätten wir die gleiche Ausgangsbasis – unkrautfreier Untergrund, fein säuberlicher Rollrasen, die Ressourcen für ein Bewässerungssystem und die Zeit diesen zu pflegen – könnten wir den Anspruch erheben: „das Gras ist dort grüner, wo man es bewässert.“
Doch weder Rasen, noch wir als Menschen haben die gleichen Ausgangsbedingungen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass wir alle mit der gleichen Investition zum gleichen Ziel kommen würden. Unsere Ausgangsbedingungen sind vielfach nicht selbst gewählt. Ob unsere Herkunftsfamilie einen „fruchtbaren Untergrund“ hergab oder sich „unkrautiger“ anfühlte oder mir sogar Steine in den Weg gelegt wurden, setzt uns auf unterschiedliche Startpositionen. Der Zugang zu Bildung, das Geschlecht, die Hautfarbe, finanzielle Mittel und Ressourcen, psychische Einschränkungen, Gesundheit und Kapazitäten unterscheiden sich. Es gibt Privilegien und Ungerechtigkeiten, die sind nicht so leicht mit 5 Tipps zum grüneren Rasen, vom Tisch fegen lassen. Unsere Vorrausetzungen unterscheiden sich gravierend und es ist nicht hilfreich aus der privilegierten Sicht so zu tun, als hätten Menschen weltweit die gleichen Chancen, oder sich hinter entsprechenden Floskeln zu verstecken.
Ich stehe also am Fenster und fühle eine Welle an Ungerechtigkeiten über mir hineinbrechen und meine da jetzt nicht den gepflegten Rasen der Nachbarn. Ich blicke manchmal neidisch auf reichere Menschen, auf schönere Menschen, auf talentiertere Menschen. Es gibt sicht- und spürbare Unterschiede. Nicht jeder der Sport macht, baut gleichschnell Muskeln auf, nicht jede, die hart arbeitet, verdient viel Geld und nicht jeder Mensch, der schön sein will, wird von unserer Gesellschaft als schön wahrgenommen. Wir sind einerseits unterschiedlich talentiert, aber andererseits sind Stärken und Ressourcen auch nicht gleichmäßig oder fair verteilt.
Es gibt das grünere Gras. Für mich im Blick auf andere, für andere im Blick auf mich. Und ich glaube, dass wir uns ein bisschen selbst belügen, wenn wir das „grünere Gras“ und die hilflose Sprachlosigkeit dahinter nicht anerkennen.
Ein Stück weit sind wir in diesem Leben einem ständigen Vergleich ausgesetzt und die Anerkennung raubt Energie und Freude.
Idealbild „grünes Gras“
Ich schob das Sprichwort im Laufe der Zeit in meinem Kopf hin und her und fragte, warum „grünes Gras“ eigentlich das Ideal ist? Wir erklären als Gesellschaft Schönheits-, Wohlstands- und Persönlichkeitsideale und erliegen, darunter auch ich, der Illusion, dass mit den richtigen Tipps und Tricks, diese auch erreicht werden können. Wir haben eine hohes Anspruchs- und Erwartungsdenken und wähnen uns in Möglichkeit der Perfektion. Rein theoretisch könnte ich reicher, schöner, besser sein. Rein theoretisch ist es denkbar, dass dein Idealleben wahr werden könnte. Wir scheinen weltweit einer Hierarchie an erstrebenswerten Idealen zu unterliegen und leiden unter der Anerkennung, dass wir vom „grünen Gras“ entweder ein Quäntchen oder Lichtjahre weit entfernt sind. Vielleicht erliegen wir gerade in den Privilegien des Westens der Illusion sogar stärker, dass wir es mit ein bisschen „Bewässerung“ doch immer schaffen könnten. Dieses ständige unter der eigenen und gesellschaftlichen Erwartung zurückbleiben macht uns aber krank, buchstäblich. Lädt uns Verantwortung auf, die uns zerquetscht.
Was ist für dich ein Idealbild vom Leben, das „grünere Gras“ der anderen?
Woher kommt es? Welche Gewohnheiten und kulturellen Geschichten stecken dahinter?
Fernab des Ideals.
Unser Garten ist kein grünes Gras und wird’s auch nie sein, Bewässerung hin oder her. Doch es ist unser Garten, er ist Ort unserer Feste, leidet nicht unter der Hitze und der Wasserknappheit, denn Unkraut vergeht nicht. Wir machen Lagerfeuer und wenn es die Wiese ansengt, was es regelmäßig tut, dann tut das niemandem weh. Wir drücken sie mit Picknickdecken platt, bauen Konzertsets auf und werden sie nächsten Sommer unter einem Planschbecken zerdrücken. Unsere Wiese entspricht dem Ideal des „grüneren Gras“ in keinster Weise, würde jeden Preis verlieren, wenn das das erklärte Ideal ist. Aber vielleicht ist unsere Wiese auch gar nicht für das Ziel geschaffen - denn noch wichtiger ist doch die Tatsache, dass es unsere Wiese ist.
So wie sie ist, gehört sie zu uns.
In Psalm 16 schreibt der Psalmschreiber David folgende Worte:
5 Mein Besitz und mein Erbe ist der HERR selbst. Ja, du teilst mir zu, was ich brauche! 6 Was du mir für mein Leben geschenkt hast, ist wie ein fruchtbares Stück Land, das mich glücklich macht. Ja, ein schönes Erbteil hast du mir gegeben!
Du teilst mir zu, was ich brauche.
Ehrlicherweise macht für mein Leben die unschöne Nutzwiese mehr Sinn, als der pflegeaufwändige Rollrasen, auch wenn nach wie vor hübscher. Vielleicht jage ich den falschen Idealen in meinem Leben her? Welchen, die für meine Berufung eigentlich nicht so relevant sind?
Was Du mir für mein Leben geschenkt hast, ist wie ein fruchtbares Stück Land.
DU mir für Mein. Die Nachbarwiese – (Gott segne meine lieben Nachbarn, die ich für meinen Blogpost instrumentalisier) ist vor allem eins: nicht meine.
Das Gras ist grüner, aber nicht meins. Das Geschenk, dass Gott mir gemacht hat, ist vielleicht nicht mein Ideales, aber weil es meins ist, mir zugedacht, kann etwas daraus wachsen, etwas werden.
Ein schönes Erbteil.
Das dir zugedachte Leben.
Wörtlich steht da „Ja, mein Erbe ist für mich schön.“ So manches als „objektiv deklariertes Ideal“ mag tatsächlich besser sein, aber es ist nicht meins. Wir haben uns den Platz, an dem wir sind, mit den Privilegien und Nachteilen, vielfach nicht ausgesucht. Doch Du bekommst ein Erbe von Gott, du wirst nicht übersehen. Du bekommst ein schönes Erbteil. „Schön“ nicht, weil es alle Welt so empfindet, sondern schön, weil es deins ist.
Wir sind nicht geschaffen, um Ideale zu erfüllen. Wir sind geschaffen, einem Ruf zu folgen. Den Anteil, den wir bekommen haben zu verwalten und zu gestalten, zu entdecken und zu befreien.
Dein Leben besteht vielleicht nicht aus „grünem Gras“ und lässt sich vielleicht auch gerade nicht optimieren oder vertikulieren.
Vielleicht fühlt sich dein Leben momentan eher wie eine Unkrautswiese an – oder wie ein Sumpfgebiet, eine Steppe oder eine Wüste.
Ich kann dir nicht sagen, warum ich die Unkrautswiese habe, verstehe nicht, wie lange deine Wüste dauert, und kann nur ahnen, dass es keinen Sinn macht das Sumpfgebiet zu bewässern. Aber ich weiß, dass Gott nicht überfordert ist, dir ein Leben zumutet, in dem er etwas sieht, dir ein Leben anvertraut, von dem er glaubt, dass Du die Richtige dafür bist.
Anstatt dem grünen Gras nachzurennen, verpasse ich vielleicht die Besonderheit meiner Wiese und damit das Geheimnis meines eigenen Lebens, verborgen in einem Anteil, den ich mir so vielleicht nicht selbst ausgesucht hab und gleichzeitig nicht mehr eintauschen möchte. Ich möchte darauf schauen, was in meinem Boden wächst, Neugierde für das Unkraut entwickeln und liebevoll anerkennen, was mir zugedacht ist.
Nicht, weil ich mir keine besseren Szenarien ausmalen könnte, sondern weil ich nur das empfangene Leben leben kann.
Nur meins leben kann,
nicht das der anderen.
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